Wo bleibt Insolvenz-Welle?
Experten warnen schon lange und blicken ratlos auf die Zahlen.
Tausende Insolvenzen, prognostizierten Ökonomen, werden 2021 kommen, sobald staatliche Hilfen und laxere Verordnungen auslaufen. Bislang kam die Pleitewelle nicht, zeigen Daten. Wiegen wir uns in falscher Sicherheit? FOCUS Online hat bei ifo-Experten und dem ZEW nachgehakt.
Diese Zahlen passen nicht so recht zu den Erwartungen: Im ersten Quartal gingen zwar 3762 Unternehmen in die Insolvenz – doch das waren 19,7 Prozent weniger als im Vorjahresquartal. Auch im April fand sich keine Spur der befürchteten Pleitewelle. 1333 Firmen schlitterten dort in den Ruin, 9,0 Prozent weniger als im Vorjahresmonat, zeigen Daten des Statistischen Bundesamts.
„Die wirtschaftliche Not vieler Unternehmen durch die Corona-Krise spiegelte sich somit weiterhin nicht in einem Anstieg der gemeldeten Unternehmensinsolvenzen“, resümiert die Behörde die Ergebnisse des letzten Monats, für den Daten vorliegen. Dabei gingen schon 2020 weit weniger Unternehmen bankrott, als man es vermuten könnte.
„Ich bin auch überrascht, dass die Insolvenzen nach wie vor niedrig sind“
Die Vermutung hinter dieser ungewöhnlich niedrigen Zahl: Durch die Aussetzung der Antragspflicht und staatliche Hilfsgelder habe sich ein „Rückstau“ an Insolvenzen aufgebaut, der nach Auslaufen der Maßnahmen abgebaut wird – demnach kommt doch noch ein deutlicher Ansprung der Insolvenzen. Diese Befürchtung hat sich bisher nicht bewahrheitet. Ist es schon früh genug für Entwarnung?
„Ich bin auch etwas überrascht, dass die Insolvenzzahlen nach wie vor niedrig liegen“, sagt Georg Licht gegenüber FOCUS Online. Der Ökonom vom Mannheimer Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung (ZEW) bekräftigt aber: „Meine generelle Einschätzung ist, dass wir es nach wie vor mit einem beträchtlichen Überhang an bislang nicht vollzogenen Insolvenzen zu tun haben.“
Das hatte Licht bereits bei vorigen Einschätzungen betont. Es lasse sich zwar erkennen, dass es nach dem Wiederinkrafttreten der Verordnung wieder zu etwas mehr Insolvenzen gekommen ist, „jedoch nach wie vor der Einbruch im 2. Quartal 2020 das Bild dominiert“. Es ist eben dieser Einbruch, weshalb Licht befürchtet, dass noch viele, bislang hinausgezögerte Insolvenzen drohen.
Nicht nur die Pleiten, auch die Schließungen sinken unerwartet
Zuletzt gingen die ZEW-Forscher weiter von einem Übergang von 25.000 Insolvenzen aus, wobei es von mehreren Faktoren abhängt, wie hoch die Zahl der Insolvenzen sein wird, die sich tatsächlich materialisieren. Licht mahnt, dass es dazu noch mehr Daten bräuchte – bislang nämlich gibt es keine offiziellen Zahlen für den Monat Mai, ab dem die Antragspflicht wieder voll greift, und der Zeit danach.
Darüber hinaus weist der Ökonom auf eine weitere Merkwürdigkeit hin: So sind nicht nur die Insolvenzen gefallen, sondern auch die Zahl gewöhnlicher Schließungen. Steht ein Unternehmen vor dem Aus, muss das nicht immer die Insolvenz bedeuten. Selbige muss zwingend angemeldet werden, sollte die Firma überschuldet, zahlungsunfähig oder der Zahlungsunfähigkeit nahe sein. „Die Anmeldung kann vom Unternehmer kommen, aber auch vom Gläubiger“, merkt Licht an.
Weitaus gängiger ist jedoch die Schließung – knapp 16.000 Unternehmen meldeten 2020 Insolvenz an, geschlossen haben indes mehr als 156.000 Unternehmen. Im Regelfall heißt das: Verträge mit Beschäftigten und Partnern werden aufgelöst, das Geschäftsvermögen veräußert, Verbindlichkeiten beglichen, und was übrigbleibt, überträgt der Eigner in die Privatsphäre. Ein letzter Schritt ist die Abmeldung des Gewerbes, was laut Licht aber nicht immer passiert.
Auch wenn die Zahl der Schließungen fast zehnmal höher als die der Insolvenzen ist, lag sie 2020 doch unter dem Vorjahreswert. Tatsächlich gründeten die Bundesbürger 2020 mehr Unternehmen, als sie auflösten. Ökonom Licht hätte auch hier „einen deutlichen Anstieg erwartet“. „Insbesondere spiegelt sich in den Schließungen außerhalb der Insolvenzverfahren bis zum Jahresende 2020 die Branchenstruktur des Lockdowns noch nicht wieder“, fügt Licht an.
Demnach war es also auch nicht so, dass sich – zumindest im vergangenen Jahr – etwaige Insolvenzen auf die Schließungen verlagert haben. Heißt das nun, dass Deutschland die gefürchtete Pleitewelle erspart bleibt? Oder, wie Licht vermutet, zeitlich versetzt kommt?
Weniger Unternehmen fürchten um die Existenz, aber …
Ein Indikator, der auf den ersten Blick hoffen lässt, sind die Unternehmensumfragen des ifo-Instituts. Im Juni vermeldete mit 14,0 Prozent nur noch etwa jedes siebte Unternehmen, dass es sich durch die Lage in seiner Existenz bedroht sieht. Noch im Februar hatten 18,7 Prozent der Firmen derart Angst um ihre Zukunft.
Allerdings gibt es deutliche Unterschiede zwischen den Branchen und Unternehmensgrößen, merkt Klaus Wohlrabe an, der beim ifo-Institut die Umfragen verantwortet. Für die Unternehmensumfragen befragen die Wirtschaftsforscher regelmäßig 9000 Firmen, Wohlrabe schränkt dabei leicht ein: „Größere Firmen sind nach dem Gewicht etwas überrepräsentiert, aber wir haben auch viele kleine Unternehmen.“
„Es gibt jetzt auch schon Hinweise in unseren Ergebnissen, dass die kleineren und kleinsten Firmen noch deutlich wahrscheinlicher von einer Insolvenz bedroht sind“, ergänzt der Wirtschaftsforscher. Darauf deuten heruntergebrochene Zahlen hin: Bei den Dienstleistern beispielsweise sehen sich nur 11,8 Prozent der Großunternehmen in ihrer Existenz bedroht – aber 22,2 Prozent der kleinen und mittelständischen Unternehmen (KMU).
Geht man weiter ins Detail, fallen die Zahlen nochmal drastischer aus. Bei den Dienstleistern etwa gaben über 70 Prozent der Veranstalter an, von der Coronakrise weiter in ihrer Existenz bedroht zu sein. Auch bei Reisebüros, der Gastronomie sowie der Beherbergung fürchtet sich weiter mehr als die Hälfte der Firmen um ihre Zukunft.
„Staatliche Hilfen reduzierten Insolvenzrisiko um etwa ein Viertel“
Obwohl diese Umfragen vor einigen Monaten sogar noch düsterer waren, hat sich das nicht in den Insolvenzzahlen manifestiert – jedenfalls für die Monate, für die sie vorliegen. Timo Wollmershäuser, Leiter der ifo-Konjunkturforschung, erklärt: „Die Gewinnrückgänge der Unternehmen 2020 waren viel geringer, als man es bei diesem Konjunktureinbruch erwarten würde. Unsere Berechnungen zeigen: Die staatlichen Hilfen haben das Insolvenzrisiko um etwa ein Viertel reduziert. Statt der knapp 16.000 Insolvenzen im vergangenen Jahr hätten es eigentlich rund 20.500 sein müssen.“
Die Hilfen sind keine Peanuts. Daten des Statistischen Bundesamts zeigen, dass allein die KfW im Rahmen der Corona-Hilfen gut 139.000 von rund 145.400 Anträgen stattgegeben und 52,64 Milliarden Euro vom Antragsvolumen von 67,39 Milliarden Euro zugesagt hat. Fast 48 Milliarden Euro an Zuschüssen flossen zudem über die diversen Sofort- und Überbrückungshilfen des Bundes an die Antragssteller.
Wollmershäuser warnt jedoch davor, in diesem Kontext nur auf die Zahl der Insolvenzen zu blicken. „Viel aussagekräftiger als die Zahl der Insolvenzen ist, welche Forderungen damit einhergehen. Selbst wenn wir die 12,5 Milliarden Euro von Wirecard im vergangenen Jahr rausrechnen, sehen wir da zumindest immer noch einen Anstieg“, sagt der Ökonom, und ergänzt: „Durch das bloße Aussetzen der Antragspflicht wurden nicht die wahren Ursachen der Insolvenz bekämpft, sondern die Folgen der Krise zeitlich verschoben.“
Noch sind nicht alle Unternehmen über den Berg
Auch wenn die Hilfen hier einen stabilisierenden Beitrag geleistet und eine voraussichtliche Insolvenzwelle „spürbar abgeflacht“ hätten, so sind eben immer noch nicht alle Unternehmen über den Berg. Das belegen auch die jüngeren Umfragen des Instituts und die Einschätzung von ZEW-Ökonom Licht.
In allzu großer Sicherheit sollte sich Deutschland also trotz der bislang hoffnungsvollen Zahlen nicht wiegen. Nach wie vor ist die Situation in einigen Branchen brenzlig, vor allem aber auch für die Unternehmen, die schon zu Beginn der Pandemie am stärksten leiden mussten – nämlich die kleinen und kleinsten Firmen.