Finanzwesen

Warum vielen deutschen Unternehmen die Pleite droht

Staatliche Hilfen überdecken bislang, dass Tausende deutsche Unternehmen faktisch pleite sind. Kommt im Herbst die größte Insolvenzwelle seit Kriegsende?

Bis zum 30. September hat die Bundesregierung die Pflicht zur Insolvenzanmeldung ausgesetzt. Foto: dpa / handelsblatt

 

  • Tausenden Firmen in Deutschland droht laut Experteneinschätzung in den nächsten Monaten die Pleite. Auch 2021 wird sich die Lage kaum verbessern.
  • Durch das sogenannte Schutzschirmverfahren haben viele notleidende Unternehmen einen Anreiz, sich möglichst rasch zu sanieren. Doch wenn die Sanierung scheitert, folgt die Insolvenz.
  • Maschinenbau, Autozulieferer, Einzelhandel, Gastronomie, Touristik und Messen: In diesen Branchen ist die Furcht vor der Pleite besonders groß.
  • Arndt Geiwitz, der ehemalige Insolvenzverwalter von Schlecker und Generalbevollmächtigte bei Karstadt Kaufhof, rechnet mit steigenden Insolvenzanmeldungen. Im Interview mit dem Handelsblatt kritisiert er die fehlende Kultur des Scheiterns in Deutschland.

Seit beinahe 120 Jahren wird bei der Firma Dieckerhoff im südlichen Ruhrgebiet Eisen gegossen. Heinrich Dieckerhoff hat in Gevelsberg zwischen Hagen und Wuppertal im Jahr 1900 die erste Gießerei aufgebaut – vornehmlich für die Ausrüstung des Bergbaus. Heute ist Dieckerhoff Gussteile-Spezialist für die Autoindustrie. Abgaskrümmer, Turboladergehäuse oder Federträger liefert das Unternehmen mit seinen 230 Mitarbeitern an Audi, Daimler und den Lkw-Hersteller Iveco.

Dieckerhoff, über eine Zwischenholding im Besitz des Stahlherstellers Georgsmarienhütte, hat schon einige Krisen überlebt. Bereits die Konjunkturschwäche Ende 2019 bekam der Autozulieferer zu spüren. Dann kam Corona. Weil nach dem Lockdown die Bänder der Kunden stillstanden, brach auch bei den Gevelsbergern das Geschäft ein.

Ende Juni trat Geschäftsführer Marc-Oliver Arnold vor die Belegschaft und verkündete, dass das Unternehmen in einem sogenannten Schutzschirmverfahren saniert werden muss. Schutzschirm – das klingt nach Hoffnung, vor allem für die Beschäftigten. Hoffnung, dass ihr Arbeitgeber nur etwas Zeit und Hilfe braucht, um wieder Tritt zu fassen.

Das erst wenige Jahre alte Schutzschirmverfahren soll notleidenden Unternehmen Anreiz geben, sich möglichst rasch zu sanieren. Sie sollen nicht warten, bis es zu spät ist, bis die Schulden sie erdrücken oder kein Geld mehr da ist – und damit ein reguläres Insolvenzverfahren eingeleitet werden muss.

„Wir haben uns aktiv für diesen Weg entschieden, um die gegenwärtige Krisenlage zu bewältigen und den notwendigen Restrukturierungsprozess entscheidend voranzutreiben“, sagt Diekerhoff-Geschäftsführer Arnold. Scheitert allerdings die Sanierung, bleibt letztlich doch nur das reguläre Insolvenzverfahren.

Ein Schicksal, das etwa ab dem dritten Quartal Tausenden Firmen droht. Laut den Prognosen des Kreditversicherers Euler Hermes, Spezialist für die Solvenzbewertung von Unternehmen, rollt eine beispiellose Pleitewelle auf die deutsche Wirtschaft zu. Und nicht nur auf die. Bis Ende 2021 geht Euler Hermes, eine Tochtergesellschaft des Allianz-Konzerns, von einem Anstieg der globalen Insolvenzen um mehr als ein Drittel im Vergleich zu 2019 aus.

Deutschland kommt dabei zwar besser weg als etwa die USA, die schon jetzt „im Epizentrum der Insolvenzwelle“ sind. Aber auch hierzulande rechnen Experten damit, dass die Zahl der Pleiten bis Ende 2021 um insgesamt zwölf Prozent auf dann etwa 21.000 Fälle zunehmen wird.
Laut einer Umfrage des Wirtschaftsforschungsinstituts Ifo von Anfang Juli sieht sogar jedes fünfte deutsche Unternehmen seine Existenz durch Corona gefährdet. In der Folge drohen steigende Arbeitslosenzahlen, sinkende Steuereinnahmen und Kreditausfälle bei den Banken. Alles Faktoren, die eine schnelle wirtschaftliche Erholung zunichtemachen können.

Noch halten staatliche Hilfen und Ausnahmeregelungen viele Firmen über Wasser. Momentan liegt de Zahl der Insolvenzen in Deutschland daher sogar niedriger als im Vorjahr. Doch die Wochen des Lockdowns haben in vielen Branchen die Unternehmensbilanzen irreparabel geschädigt. In anderen Branchen, etwa Flugverkehr und Tourismus, ist eine Rückkehr zu normalen Verhältnissen noch Monate, womöglich Jahre entfernt.

Sobald die staatlichen Stützstreben wegfallen, droht auf die Krankheitswelle eine Pleitewelle zu folgen. Ebenso wie das Coronavirus selbst werden die Insolvenzen dabei vor einzelnen Ländern, Branchen und Unternehmen nicht haltmachen. „Es kann jeden treffen“, sagt Ron van het Hof, Chef von Euler Hermes in Deutschland, Österreich und der Schweiz, dem Handelsblatt. „Teilweise auch Unternehmen, die gesund waren.“

Je länger die staatlichen Schutzschirme aufgespannt bleiben, desto drängender stellt sich auch die Frage: Wie lange kann der Staat Unternehmen vor der Pleite schützen? Wie stark darf er in das Marktgeschehen eingreifen, zu dem es nun einmal auch gehört, dass schwache Unternehmen in Krisenzeiten verschwinden?

1. Ruhe vor dem Sturm

Bei der Lufthansa, vor Corona Europas größte Fluggesellschaft, hat sich die Bundesregierung fürs Eingreifen entschieden. Quasi über Nacht stand ab März fast die gesamte Flotte still, was zu einem Verlust von einer Million Euro pro Stunde führte. Im Ringen um das neun Milliarden Euro schwere Rettungspaket des Bundes musste der Vorstand um Lufthansa-Chef Carsten Spohr, stets stolz auf die solide Bilanz der Airline, sogar die Option einer Schutzschirminsolvenz durchspielen.

Besonders heikel ist die Lage für Unternehmen in Branchen, die schon länger unter Druck sind. Wie in der Luftfahrt, wie aber auch bei vielen Modeketten, die seit Jahren mit geringen Margen, hohem Wettbewerb und Strukturwandel kämpfen. Appelrath-Cüpper und die Tom-Tailor-Holding sind bereits insolvent.

Galeria Karstadt Kaufhof und Esprit sind unter den Schutzschirm geschlüpft und nutzen nun das Verfahren, um sich von Filialen und Mitarbeitern zu trennen. Vor allem Galeria Karstadt Kaufhof ist ein trauriges Beispiel für ein Unternehmen, das einfach nicht aus den roten Zahlen kommt. Bis in die 1980er florierten die beiden damals noch getrennten Warenhausketten. Dann begann der schleichende Niedergang. Auch der Zusammenschluss brachte keine Rettung.

Es trifft nicht nur den Einzelhandel. „Auch der Motor der Automobilindustrie stotterte schon vor Covid-19“, so van het Hof. Ähnliches gilt für den Maschinenbau, der wiederum die Autobranche beliefert. Dazu kommen Unternehmen in Gastronomie und Tourismus, denen im Lockdown die Umsätze weggebrochen sind.

Meist geht es um Firmenschicksale, die nur selten Schlagzeilen machen. So zum Beispiel das der Messebaufirma Rendel mit ihren neun festen Mitarbeitern. Seit März sind Messen pandemiebedingt untersagt. „Das Berufsverbot ist für unsere Branche eine Katastrophe. Wir haben keinerlei Aufträge mehr“, sagt Rendel-Geschäftsführerin Michaela Kupper. Im Mai stellte Kupper für ihr Unternehmen den Insolvenzantrag. Es sind vor allem kleinere Firmen und Mittelständler, die um ihre Zukunft bangen, denn sie haben in der Regel eine deutlich geringere Eigenkapitalquote als Großkonzerne.

Die Banken müssen „in den kommenden Quartalen Corona-bedingt mit einem steigenden Volumen an Kreditausfällen rechnen“, sagt Felix Hufeld, Chef der Finanzaufsicht Bafin. „Alles andere wäre naiv.“ Die Ratingagentur Standard & Poor’s prognostiziert weltweit in diesem und im nächsten Jahr Kreditverluste von 2,1 Billionen Dollar, davon dürften allein 1,3 Billionen auf 2020 entfallen – mehr als doppelt so viel wie 2019.

Durch die Insolvenzen stehen zudem Hunderttausende Jobs auf dem Spiel. Das bundeseigene Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) geht davon aus, dass die Zahl der Arbeitslosen in Deutschland in diesem Jahr im Schnitt um gut eine halbe Million höher liegen wird als im vergangenen.

Die Pleitewelle kommt mit Zeitverzug, weil sich viele Unternehmen bislang mit Staatshilfen und Kurzarbeit über Wasser halten. Es wird damit gerechnet, dass in diesem Jahr durchschnittlich 2,2 Millionen Menschen in Kurzarbeit sein werden. Noch schwerer als Staatshilfe und Kurzarbeit wiegt aber, dass mit dem Lockdown im März die Bundesregierung die Pflicht zum Insolvenzantrag aufgehoben hat. Normalerweise muss eine überschuldete oder zahlungsunfähige Firma binnen drei Wochen Insolvenz beantragen. Jetzt braucht sie das nicht, wenn sie nachweisen kann, dass sie durch Corona in die missliche Lage geraten ist und Aussicht auf Rettung besteht.

Es ist eine Wette auf eine schnelle und durchgängige Erholung der Wirtschaft. Sollte es anders kommen, müssten die Insolvenzanträge nachgeholt werden. Das hätte auch weiter sinkende Gewerbesteuereinnahmen und steigende Ausgaben für das Arbeitslosengeld zur Folge.

„Als Ruhe vor dem Sturm“ bezeichnet denn auch van het Hof die momentane Lage: „Wir haben eine tickende Zeitbombe, die spätestens im dritten Quartal des Jahres losgehen wird.“

Auch der Informationsdienst Creditreform, Spezialist für Unternehmensdaten, warnt davor, sich von den aktuellen Zahlen blenden zu lassen. Trotz der Coronakrise verringerte sich die Zahl der Insolvenzen in der Bundesrepublik im ersten Halbjahr im Vergleich zum Vorjahreszeitraum zwar um 8,2 Prozent auf 8900 Fälle. Doch das Insolvenzgeschehen habe sich von der tatsächlichen Situation der deutschen Unternehmen abgekoppelt, heißt es bei Creditreform.