Pflicht zum Insolvenzantrag bleibt ausgesetzt
Die Koalition hat sich darauf verständigt, die Insolvenzantragspflicht für Unternehmen in der Coronakrise weiter auszusetzen. Manche Restrukturierer hoffen, dass der Aufschub reicht, um ihren Instrumentenbaukasten in der Zwischenzeit zu erweitern.
Die Lockerungen beim Insolvenzantrag gehen in die Verlängerung. Darauf hat sich die Koalition am gestrigen Dienstagabend geeinigt. Die Aussetzung der Insolvenzantragspflicht war im Frühjahr zunächst bis Ende September beschlossen worden. Die Regelung können Unternehmen nutzen, die aufgrund der Coronavirus-Pandemie in wirtschaftliche Schieflage geraten sind.
Die Regelung wurde nun bis Jahresende verlängert – allerdings nicht für alle Insolvenzgründe: Die Aussetzung greift von Oktober an nur noch beim Insolvenzgrund Überschuldung. Als überschuldet gilt ein Unternehmen, wenn sein Vermögen nicht mehr ausreicht, um die bestehenden Verbindlichkeiten zu decken.
Bei Zahlungsunfähigkeit müssen Unternehmen künftig also wieder Insolvenz beantragen. Viele Marktbeobachter schätzen diesen Insolvenzgrund als deutlich relevanter ein als die Überschuldung. Zahlungsunfähig sind Unternehmen, sobald sie 10 Prozent ihrer fälligen Forderungen nicht in absehbarer Zeit begleichen können. Offenbar sieht die Politik bei den zahlungsunfähigen Unternehmen weniger Aussichten darauf, dass eine verlängerte Frist in ausreichend vielen Fällen zu einer nachhaltigen Restrukturierung führt.
Doch die Neuregelung überzeugt nicht alle Marktteilnehmer: „Ich halte die Unterscheidung für wenig sinnvoll“, kritisiert Daniel Kress, Partner im Berliner Büro der Kanzlei Hengeler Mueller. Entscheidender als der Antragsgrund ist aus seiner Sicht die positive Fortführungsprognose, der „Going Concern“. Dieser besteht fort, solange es aussichtsreiche Finanzierungsgespräche gibt. Der Anwalt geht davon aus, dass von der Verlängerung der Insolvenzantragsaussetzung nur wenige Unternehmen profitieren werden.
Insolvenzverwalter gegen Verlängerung
Auch die weiteren Reaktionen auf die Aussetzung der Insolvenzantragspflicht sind gespalten. Kritiker der Verlängerung fürchten, dass eine Aussetzung sogenannte „Zombie-Unternehmen“ künstlich am Leben erhalten wird, die aus eigener Kraft nicht mehr am Markt bestehen könnten. Dies schade Unternehmen, die die Krise aus eigener Kraft bewältigen.
Tatsächlich ist die Zahl der Insolvenzen aufgrund der Aussetzung bereits drastisch gesunken: Der Verband der Insolvenzverwalter Deutschlands (VID) erwartete für Juli 2020 einen Rückgang um mehr als 29 Prozent gegenüber Juli 2019. Der Berufsverband positionierte sich zuletzt deutlich gegen eine Verlängerung – wohl nicht ganz ohne Eigeninteresse. Seinen Mitgliedern entziehen die Corona-Insolvenzregeln derzeit in Teilen die Geschäftsgrundlage.
Geht die Insolvenzaussetzung zu weit?
Der Insolvenzverwalter und VID-Vorsitzende Christoph Niering glaubt, dass Trittbrettfahrer profitieren: „Der deutliche Rückgang der eröffneten Unternehmensinsolvenzen zeigt, dass auch Unternehmen durch die Aussetzung der gesetzlichen Regelungen geschützt werden, die nicht pandemiebedingt in wirtschaftliche Schwierigkeiten geraten sind“, kritisierte er. Zudem werde in der Debatte zu wenig darauf abgestellt, dass ein Insolvenzverfahren in erster Linie die Interessen der Gläubiger befriedigen solle.
Auch Hengeler-Mueller-Partner Kress staunt über die zuletzt sehr niedrigen Zahlen bei den Insolvenzanträgen: „Firmenzombies, die schon vor Ausbruch der Corona-Pandemie in Schieflage waren, gehörten eigentlich explizit nicht zum Adressatenkreis der Krisenmaßnahmen der Bundesregierung“, betont er. Sie wären auch unter den Sonderregelungen verpflichtet gewesen, einen Insolvenzantrag zu stellen. „Insofern verwundert die geringe Zahl von Insolvenzanträgen in den letzten Monaten durchaus.“ Seine Vermutung: „Es mag auch Firmen geben, die ihre wahre Situation geschickt verdecken konnten. Hier besteht die Gefahr, dass diese ihren Überlebenskampf zu Unrecht und zu Lasten der Masse noch einige Monate weiterführen.“ Anschließend könnte Deutschland dann eine Insolvenzwelle substanzloser Unternehmen bevorstehen, befürchtet der Jurist.
Aussetzung birgt auch Haftungsrisiken
Insolvenzverwalter Niering vermutet sogar, dass in der Unternehmerlandschaft der Eindruck entstanden sei, dass die Verpflichtung, einen Insolvenzantrag stellen zu müssen, vollständig ausgesetzt sei. Dabei greift die Regelung nur in klar definierten Fällen – wer nicht unter die Regelung fällt, kann sich schnell strafbar machen, wenn er eine geltende Insolvenzantragspflicht ignoriert. „Die damit verbundenen Haftungsrisiken, auch die strafrechtlichen Risiken, werden von vielen Unternehmern nicht gesehen“, warnt Niering.
Die Situation ist für die Verantwortlichen in angeschlagenen Unternehmen durchaus heikel. Wenn ein Vorstand oder Geschäftsführer beispielsweise ein Geschäft eingeht, zu diesem Zeitpunkt aber schon davon ausgehen muss, dass er die eingegangene Verpflichtung bei Fälligkeit nicht wird erfüllen können, ist dies ein Eingehungsbetrug und damit strafbar.
In größeren Unternehmen scheinen diese Risiken deutlich präsenter zu sein, wie ein genauerer Blick in die Insolvenzstatistik nahelegt: Bei Unternehmen mit mehr als 20 Millionen Euro Umsatz ist die Anzahl der Insolvenzanträge in den zurückliegenden Monaten gegenüber dem Vorjahr deutlich gestiegen – entgegen dem allgemeinen Trend der insgesamt rückläufigen Insolvenzen über alle Umsatzgrößen hinweg.
Eine mögliche Erklärung: Diese Großinsolvenzen werden häufig bereits in einem frühen Stadium eng von professionellen Restrukturierern begleitet. Und auch das Management hat aus Sorge vor Haftungsrisiken in der Regel ein Interesse daran, rasch für klare Verhältnisse zu sorgen.
Restrukturierer unterstützen Verlängerung
Die jetzt verkündete Verlängerung der Aussetzung zeigt auch die Konfliktlinie zwischen Insolvenzverwaltern und den stärker im vorinsolvenzlichen Bereich gefragten Restrukturierern noch einmal auf: Die TMA Deutschland, ein Berufsverband von Restrukturierungsexperten, hat eine ganz andere Einschätzung als der Insolvenzverwalterverband und unterstützte zuletzt eine längere Aussetzung der Insolvenzantragspflicht wegen Überschuldung. Nach dem Willen der TMA hätte diese sogar bis März 2021 greifen können.
Die Restrukturierer fürchten, dass viele Unternehmen bis Oktober nicht sicher würden absehen können, ob ihr Betrieb für das laufende und das folgende Geschäftsjahr durchfinanziert sein wird. Ohne eine solche positive Prognose wäre wohl der Gang zum Insolvenzrichter angezeigt. Die TMA-Mitglieder fürchten, dass eine drohende große Insolvenzwelle in Deutschland die Kapazitäten sowohl der Gerichte als auch der etablierten Insolvenzverwalter an ihre Grenzen bringen würde.
Hoffnungsträger präventive Sanierung
Die Hoffnungen der Restrukturierungsbranche ruhen derzeit noch auf einem anderen Instrument: Aktuell wird das präventive Sanierungsverfahren nach der EU-Restrukturierungsrichtlinie in deutsches Recht überführt. In der Frage, welche Berufsgruppe am besten geeignet sei, die damit forcierte vorinsolvenzliche Sanierung zu begleiten, läuft seit längerem ein Positionierungswettstreit zwischen Insolvenzverwaltern und Restrukturierern.
Aus dem Markt ist zu hören, dass der Referentenentwurf für dieses vorinsolvenzliche Sanierungsverfahren in Deutschland bis Ende August vorgelegt werden soll, also spätestens zu Beginn der kommenden Woche. Die gestern Abend in Berlin beschlossene Verlängerung der Insolvenzaussetzung könnte für den nötigen zeitlichen Spielraum sorgen, das Instrument der präventiven Sanierung noch so rechtzeitig in den Instrumentenbaukasten der Restrukturierer aufzunehmen, dass einige der momentan strauchelnden Krisenfälle davon profitieren könnten.
Mit einer Verlängerung gewinne der Gesetzgeber „die nötige Zeit, die EU-Restrukturierungsrichtlinie in deutsches Recht umzusetzen“, hofft auch die TMA. Sanierungsfähige Unternehmen könnten dann mit den Stimmen der Mehrheit ihrer Gläubiger außergerichtlich umschulden oder entschulden.
Wem kann die präventive Sanierung helfen?
Die präventive Sanierung setzt bereits vor der Insolvenzreife an und soll eine Sanierung in einem frühen Krisenstadium ermöglichen, um den Insolvenzfall zu verhindern. Unternehmen, die dieses Instrument nutzen, sollen im Kern gesund sein und über ein überlebensfähiges Geschäftsmodell verfügen.
Gerade diejenigen Unternehmen, die wirklich allein aufgrund der Coronakrise in Schieflage geraten sind, könnten damit von einem solchen Verfahren profitieren. „Das Instrument setzt an der Passivseite an und greift nicht bei einer operativen Sanierung, sondern nur im Falle der Überschuldung. Gerade im Corona-Umfeld sehen wir viele Unternehmen mit grundsätzlich funktionierenden Geschäftsmodellen, deren Kapitalstruktur durch die disruptive Entwicklung nicht mehr tragfähig ist“, beobachtet Daniel Kress von Hengeler Mueller. Für diese Unternehmen werde ein vorinsolvenzliches Verfahren „äußerst hilfreich sein“, meint der Jurist.
Unter diesem Aspekt sieht Kress auch die mehrmonatige Verlängerung positiv: „Viele Unternehmen mit hoher Schuldenlast werden für eine Erholung ihrer Geschäftsmodelle mehr Zeit benötigen. Mit der Verlängerung der Antragsaussetzung gewinnen sie diese, um dann – sollte der präventive Restrukturierungsrahmen in Kraft sein – die Kapitalstruktur anpassen zu können.“